Von: Michael Petermann 16. Juni 2023

Das OLG Naumburg hat in einem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 04.08.2022 (Az. 2 U 162/21) das Recht der Pflichteilsergänzung weiter fortgebildet.

Worum ging es?

Der spätere Erblasser hatte an zwei seiner Kinder jeweils ein Hausgrundstück unter Vorbehalt und Begründung verschiedener Rechte übertragen. Für sich und seine Ehefrau behielt er sich auf Lebzeit an 80 % der Nutzfläche der jeweiligen Häuser lebenslängliche Wohnungsrechte vor. Die Erwerber wiederum verpflichteten sich zur lebenslänglichen Betreuung und Pflege der Eltern. Sie verpflichteten sich auch, die Immobilie bis zum erfolgten Ableben beider Eltern weder zu belasten noch zu veräußern. Für den Fall einer Zuwiderhandlung sah der Vertrag ein Recht auf Rückübertragung vor, welches durch Eintragung einer Vormerkung im Grundbuch gesichert wurde.

Ca. zwölf Jahre nach der Übertragung starb zunächst die Ehefrau des Erblassers. Ein weiteres Jahr später starb auch er. Erben der beiden wurden jeweils die bisherigen Erwerber. Ein weiteres Kind, das damals nichts erhalten hatte, war vollständig enterbt worden.

Dieses Kind machte in den beiden Nachlässen seinen jeweiligen Pflichtteil geltend und u. a. wegen der übertragenen Hausgrundstücke zusätzlich Pflichteilsergänzung.

Was die zusätzlich geforderte Pflichteilsergänzung betrifft, wurde eine der beiden Erwerberinnen in beiden Instanzen zu ebendieser verurteilt.
Mit dem Argument, dass seit der Übertragung bereits mehr als zehn Jahre verstrichen seien und damit die Ausschlussfrist von § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB greife, fand diese Erwerberin in beiden Instanzen jedoch kein Gehör.

Auswirkungen auf die Praxis:

Die Entscheidung des OLG Naumburg überrascht ebenso wenig wie die Entscheidung der Vorinstanz.

Wer sich an 80 % der Nutzfläche von Immobilien ein Wohnungsrecht vorbehält, nutzt die Immobilie weit überwiegend weiter. Bedingung für den Anlauf der 10-Jahres-Frist des § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB, die zu einer 10%igen jährlichen Abschmelzung von Pflichtteilsergänzungsansprüchen führt und die in Fällen, in welchen im Zeitpunkt des Erbfalls bereits die gesamten zehn Jahre verstrichen sind, sogar zur Ausschlussfrist wird, ist nach ständiger Rechtsprechung jedoch, dass ein Schenker den Schenkungsgegenstand aus seinem Vermögen nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch ausgegliedert hat. Das aber ist nicht der Fall, wenn er ihn unter Ausschluss des Eigentümers ganz oder überwiegend weiter nutzen darf. Allein das im Fall für den Erblasser und seine Ehefrau vorbehaltene lebenslängliche Wohnungsrecht hätte es also bereits gerechtfertigt, einen Fristanlauf zu versagen.

Anwendbar ist § 2325 Abs. 3 S. 1 BGB allerdings nur auf Schenkungen. Die von den Erwerbern übernommene Verpflichtung zu lebenslanger Betreuung und Pflege sah das OLG Naumburg dabei noch nicht als ausreichende Gegenleistung an. Aus der Sicht des OLG nahm die Pflegeverpflichtung dem Vertrag noch nicht den Schenkungscharakter. Berücksichtigungsfähig wurde die Pflegeverpflichtung damit rein auf der Wertebene.

Die schlussendlich noch eingegangene Verpflichtung, die Immobilien bis zum erfolgten Ableben beider Eltern weder zu belasten noch zu veräußern, sah das OLG als zusätzliche Rechteeinschränkung der neuen Eigentümer. Sie wurde bedeutsam, weil eine der beiden Immobilien trotz des vorbehaltenen Wohnungsrechts vom Erblasser und seiner Ehefrau tatsächlich gar nicht bewohnt worden war. Insofern hatte das Wohnungsrecht für die neuen Eigentümer quasi „nur auf dem Papier“ gestanden. Eben wegen des auch übernommenen Belastungs- und Veräußerungsverbots hielt das OLG dies jedoch für nicht relevant.

Tipp:

Immobilienübertragungen unter Vorbehalt und Begründung spezifischer Rechte sollten in familiären Verhältnissen, in welchen hernach die Geltendmachung von Pflichtteil und ggf. Pflichteilsergänzung droht, niemals ohne fachkundige Beratung stattfinden. Fachkundige Beratung heißt dabei Beratung durch jemanden, der solche Fälle nicht nur wie ein Notar typischerweise aus der reinen Gestaltungspraxis kennt, sondern mindestens ebenso gut aus außergerichtlichen und gerichtlichen Auseinandersetzungen. Insoweit empfiehlt sich also der Gang eines potentiellen Schenkers und/oder eines potentiellen Beschenkten zu einem Fachanwalt für Erbrecht.

Michael Petermann
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Erbrecht
Gaßmann & Seidel Rechtsanwälte PartmbB, Stuttgart

Kategorie: Allgemein