Von: Michael Petermann 10. Januar 2022

Die Entscheidung:
Der Bundesgerichtshof musste sich in einer erst kürzlich veröffentlichten Entscheidung vom 29.01.2021 (IV ZR 328/20) mit der Frage befassen, ob bewertungsbedürftige Nachlassgegenstände für Pflichtteilsberechtigte auch noch dann sachverständig bewertet werden müssen, wenn die Gegenstände bei Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen bereits veräußert wurden.

Im zugrunde liegenden Fall hatte der Erblasser einen hälftigen Miteigentumsanteil an einem Grundstück besessen. Das betreffende Grundstück war einige Monate nach dem Erbfall veräußert worden. Erst im Anschluss machte ein Pflichtteilsberechtigter gegenüber dem Alleinerben Pflichtteilsansprüche geltend. Den anteiligen Pflichtteil aus dem vormaligen Miteigentumsanteil des Erblassers am veräußerten Grundstück berechnete der Alleinerbe daraufhin auf Basis des dafür tatsächlich erzielten Veräußerungserlöses. Der Pflichtteilsberechtigte ließ dies jedoch nicht genügen. Er forderte dennoch eine Wertermittlung des Miteigentumsanteils durch Sachverständigengutachten. Es kam zum Rechtsstreit. In zweiter Instanz verneinte das Oberlandesgericht das Bestehen eines Wertermittlungsanspruchs in einer solchen Sachverhaltskonstellation. Der BGH war dezidiert anderer Ansicht, hob die Entscheidung des Oberlandesgerichts auf und verurteilte den Erben zur Wertermittlung.

Stellungnahme:
Dem Bundesgerichtshof ist im Ergebnis beizupflichten. Er differenziert zwischen dem Anspruch auf Wertermittlung und dem Anspruch auf Zahlung von Pflichtteil. Für den Anspruch auf Zahlung von Pflichtteil ist anerkannt, dass für die Pflichtteilsberechnung ein zeitnah zum Erbfall erzielter Veräußerungserlös einer lediglich sachverständigen Wertermittlung grundsätzlich vorzuziehen ist. Wertermittlungen sollen nur ausnahmsweise Vorzug vor tatsächlichen Veräußerungserlösen erlangen, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass im Zeitpunkt der Veräußerung außergewöhnliche Marktverhältnisse vorlagen. Diese Zusammenhänge rechtfertigen es aus Sicht des Bundesgerichtshofs jedoch nicht, den Pflichtteilsberechtigten grundsätzlich zustehenden Anspruch auf Wertermittlung zu unterlaufen. Der Bundesgerichtshof begründet dies mit der gesetzlichen Ausgestaltung des Wertermittlungsanspruchs. Der Erbe schuldet Wertermittlung auf Kosten des Nachlasses. Er schuldet im Regelfall auch sachverständige Wertermittlung. Das einzuholende Sachverständigengutachten soll dem Pflichtteilsberechtigten in Bezug auf den zu bewertenden Nachlassgegenstand sowohl eine Einschätzung liefern als diese Einschätzung für ihn auch nachprüfbar machen. Läge es im eigenen Ermessen des Erben, auf die Einholung eines solchen Gutachtens einfach zu verzichten, würde dem Pflichtteilsberechtigten beides genommen. Dadurch würde sich das Ungleichgewicht zwischen Erben und Pflichtteilsberechtigten noch weiter zu Ungunsten der Letzteren verschieben.

Tipp:
Erben, die befürchten müssen, auf Pflichtteil in Anspruch genommen zu werden, werden zukünftig gut daran tun, vor einer geplanten Veräußerung eines werthaltigen Nachlassgegenstands für diesen vorsorglich ein allen pflichtteilsrechtlichen Vorgaben genügendes Sachverständigengutachten einzuholen. Dies verursacht zwar entsprechend Kosten, gibt dem Erben aber unabhängig von der weiteren Entwicklung wünschenswert Sicherheit. Eine solche Vorgehensweise empfiehlt sich auch deshalb, weil nach einem stattgefundenen Verkauf für den Erben oft gar keine Möglichkeit mehr besteht, ein dann noch gefordertes Sachverständigengutachten nachzuerstellen. Nach erfolgter Veräußerung ist der veräußerte Gegenstand in der Regel ja dem Zugriff des Verkäufers komplett entzogen. Er könnte einen von ihm beauftragten Sachverständigen den Gegenstand so nur noch mit Zustimmung des Käufers überhaupt besichtigen lassen. Diese Zustimmung aber muss ihm ein Käufer nicht ohne Weiteres geben.

Michael Petermann
Rechtsanwalt und Fachanwalt für Erbrecht
Anwaltskanzlei Gaßmann & Seidel, Stuttgart

Kategorie: Erbrecht